Über das Projekt: Hintergrund, Forschungsfragen, Relevanz
Fragen der Zugehörigkeit sind für jede Person relevant, sowohl im Sinne von “zu Hause fühlen” als auch im Hinblick auf (in)formelle Zugehörigkeiten. Dies zeigt sich besonders in Situationen der Flucht und Vertreibung, wenn Menschen ihre bekannten Rahmenbedingungen von Zugehörigkeit verlassen oder verlassen müssen und sich in neuen, fremden Kontexten und Umgebungen wiederfinden. Migrationsstudien, inklusive ethnomusikologischer Forschung, analysierte Zugehörigkeit und ihre Modi der Präsentation und Performance bislang weitgehend entlang ethnischer und nationaler Kategorisierungen. Dieser Zugang ignoriert oft die Relevanz von transnationalen Netzwerken und übersieht die Komplexität von individueller Identitätskonstruktion. Gender Studies, Globalisierungsstudien und Forschung zu transnationaler Migration haben gezeigt, dass sich Individuen in komplexen Zusammenhängen von voneinander abhängigen Identifikationen und Zugehörigkeiten bewegen und positionieren, die über die Identifikation als Mitglieder von ethnisch oder national definierten Gemeinschaften hinausgehen. Daher sind Mobilität und multiple, ineinandergreifende Prozesse der Identitätsfindung ins Zentrum der Forschung gerückt.
Mittels der Untersuchung von Biografien, musikalischen Performances und Netzwerken ausgewählter Musikerinnen* durch Interviews und teilnehmende Beobachtung analysiert das Projekt, wie aus Syrien geflohene Musikerinnen* ihre verwobenen Zugehörigkeiten in ihrem Musikmachen auf die Bühne bringen, einsetzen, verhandeln und in Handlungen bringen. In den Medien oft simpel als “syrisch” sowie als “Flüchtling” oder “Migrantin” präsentiert und markiert, nehmen Musikerinnen* aus Syrien in ihrem Leben und ihrer Musik vielschichtige Identitäten und Zugehörigkeiten ein, die ethnische und nationale Kategorien sowie soziale Zuschreibungen überschreiten. Auch wenn “syrische”, lokal begründete Zugehörigkeiten potenziell relevant und stark bleiben, ist das Ziel dieser Forschung, nicht in die Falle von Essenzialisierung zu tappen und diese Kompenente von Zugehörigkeit zu betonen und dadurch andere Zugehörigkeiten oder allgemeine Aspekte von Performativität unsichtbar zu machen. Anstatt eine syrische diasporische Gemeinschaft anzunehmen, werden musikalische Performances und Leben von Individuen, ihre Strategien und Netzwerke analysiert, um alle möglichen Arten von Zugehörigkeit zu verstehen, wie sie in und um Musik zum Tragen kommen.
Die Musikerinnen*, die in diesem Projekt im Fokus stehen, haben demnach einen gleichen oder ähnlichen nationalen, territorialen und kulturellen Hintergrund, waren in Syrien öffentlich als Musikerinnen* aktiv und haben nach ihrer Flucht in Österreich oder Deutschland Fuß gefasst, also in Ländern, die hinsichtlich Sprache, politischer und ökonomischer Situation, kultureller Geschichte und institutioneller Möglichkeiten vergleichbar sind. Diese Musikerinnen* – einheitlich in manchen Aspekten, aber enorm unterschiedlich in anderen, inklusive musikalischem Background – sind als Fallbeispiele speziell spannend, um die Komplexität und Diversität von musikalischen Tätigkeiten, Netzwerken und Zugehörigkeiten zu diskutieren.
Das Projekt nimmt vor diesem Hintergrund eine explizit politische Haltung gegen jene sich in Europa ausbreitenden sozio-politischen Tendenzen ein, in denen die Exklusion und Marginalisierung von homogenisierten Anderen die Chance auf menschliche Begegnungen mit anderen Menschen, speziell „Fremden“, verunmöglicht. Durch die Präsentation der Individualität und Einbettung in Beziehungen wird ein besseres Verständnis der Komplexität von menschlicher Identität möglich – dies auch dezidiert, um einer politischen Diskussion, die fertige Identitäten Menschen anderer Hautfarbe, Religion, oder Herkunft zuschreibt, entgegenzutreten.